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„Mal runter vom Campus“ – Gehen als Methode in den Geschichtswissenschaften

Neben den sich wandelnden Nutzungsformen des Gehens und der damit verbundenen Situiertheit im Raum interessieren mich als globale Umwelthistorikerin gerade auch partizipative Formate. Das Gehen erlaubt den Studierenden, sich als Teil der Umwelt wahrzunehmen und damit einen für die Umweltgeschichte fundamentalen Perspektivwechsel zu vollziehen. Noch viel zu oft wird bei historischem Arbeiten in den Schulen Natur zur Ressource und Landschaft zur Bühne menschlichen Handelns reduziert. Der Mensch ist entrückt und als Element über statt als Teil einer Umwelt definiert, welche allumfassend und handlungsbestimmend ist. Um diesen Perspektivwechsel didaktisch leichtgängiger zu gestalten, heißt es in meiner Lehre nun regelmäßig: Raus aus dem Seminarraum und runter vom Campus.

Simone Müller (Augsburg)

Einige stolpern über das herumliegende Totholz, andere kämpfen mit den Himbeerranken. Ein Dritter schimpft, weil er die Matschpfütze zielgerichtet mitgenommen hat. Der Barfußschuhläufer nimmt mit versonnener Miene den schwingenden Untergrund wahr, bis auch er unverhofft einem Brennnesselhain ausweichen muss. Ein Spaziergang abseits der Wege – vielleicht nicht genau, was sie sich als Teil eines Geschichtsseminars vorgestellt hatten – und doch eint die Gruppe, wie sie so dem Förster mit seinem routinierten Schritt hinterhereilt, eine kindliche Ausgelassenheit und Neugier. Vorbei an den Setzlingen ist unser Ziel die Kiesgrube, danach das Windrad, beides mitten im Forst der Augsburger Fuggerei, ein Ort, wo sich Fragen von Nachhaltigkeit, Nutzungskonflikten und sich wandelnde Vorstellungen vom Wald im Mikrokosmos studieren lassen. „Das hat bislang noch keiner mit uns gemacht,“ steckt mir später eine Studentin, als wir gemeinsam Mittagspause machen. „Was?“ frage ich verwirrt. „Na, mal vom Campus runter. In den Wald gehen.“

© Simone M. Müller, Juni 2025. Das Seminar „Waldgeister und Klimawandel“ im Forst der Augsburger Fuggerei.
© Simone M. Müller, Juni 2025. Das Seminar „Waldgeister und Klimawandel“ im Forst der Augsburger Fuggerei.

Gehen als Methode

Es ist nun bereits das dritte Semester, das ich mit meinen Studierenden gehend verbringe. Mal längere, mal kürzere Strecken. Mal offensiv eingesetzt als Kern einer Übung „Walking als Methode“, mal subversiv integriert in Exkursionen im Rahmen thematischer Seminare zur alpinen Geschichte oder der Feuchtgebiete entlang der Paar. Gehen als Methode fokussiert den Akt der Fortbewegung, unser Wandern, Schlendern, Spazieren oder gar Marschieren, ebenso wie das Gelände und die Distanz der Route oder die körperliche Fitness und Verfasstheit des Spaziergängers bzw. der Spaziergängerin.[i] Die Methode hinterfragt, welche Räume Menschen beim Gehen in welcher Form erschaffen und wie Menschen Landschaft gehend wahrnehmen. Sie trägt dabei der Tatsache Rechnung, dass jegliches Gehen immer inmitten geographischer und historisch gewachsener Segmentierung von Landschaft und kultureller Symbolik stattfindet. Beides lenkt unsere Aufmerksamkeit und schließt bestimmte Personengruppen ein oder aus. Gehen wird daher als qualitative Untersuchungsmethode gewertet, welche als Beobachtungsmethode oder als Form partizipativer Forschung fungiert.[ii]  

Gehen als Methode ist vor allem in der kritischen Geographie eine etablierte Forschungs- und Lehrpraxis. Doch auch für die Geschichte hat die damit verbundene Beschäftigung mit Raum und seiner Konstruktion viel zu bieten. In ihrem Werk Wanderlust verfolgt Essayistin und Kulturhistorikerin Rebecca Solnit beispielsweise die historische Genealogie des Gehens als eine Form des Nachdenkens von den antiken Sophisten und meditierenden mittelalterlichen Mönchen bis zu den Philosophen Kant, Nietzsche und Wittgenstein, wobei letzterer wohl eher verzweifelt in seinen engen Wohnräumen hin- und hertigerte.[iii] Die Figur des meist männlichen Flaneurs, aber wie jüngste Forschung zeigt auch diejenige der weiblichen Flâneuse, ist des Weiteren aus einer Geschichte des urbanen Raums nicht zu tilgen. Intellektuelle wie Guillaume Apollinaire, Walter Benjamin oder Marcel Proust nutzten den Flaneur, um die Entwicklung von einem Landschaftsgefühl der Romantik zu einer romantischen „Stadtschaft“ zu erklären und damit den Zeitgeist der Jahrhundertwende in Europa einzufangen.[iv]

Als globale Umwelthistorikerin interessieren mich am Gehen vor allem die partizipativen Elemente und damit weniger das Verhältnis zwischen Kopf und Körper, wie es Solnit historisiert, als das von Körper und Landschaft. Gehen erlaubt den Studierenden, sich als Teil einer Umwelt wahrzunehmen, welche allumfassend und handlungsprägend ist. Im Gehen erfahren und erproben sie damit einen für die Umweltgeschichte wichtigen Perspektivwechsel. In der Praxis übersetzt sich das in einen didaktischen Dreischritt aus Selbstwahrnehmung, teilnehmender Beobachtung und historischer Abstraktion.

Der gehende Seminarraum

„Strol – lo – lo – gy“: Eine erste Aufwärmübung mit einem englischen Zungenbrecher fördert nicht nur studentische Lacher, sondern auch das für Lernen notwendige Maß an Verwunderung. „Spaziergangswissenschaften“ als wissenschaftliche Methode?[v] Nein, kein Scherz, und in den 1980er Jahren sogar Studiennebenfach an der Universität Kassel unter der Federführung des Soziologen und Planungstheoretikers Lucius Burckhardt. Dieser ließ seine Studierenden u.a. mit Windschutzscheiben durch die autofreundliche Stadt spazieren oder nach der Perspektive 0 fahnden, von der ausgehend berühmte Landschaftsmalereien entstanden sind.[vi] In einer historischen Varianz von Burckhardts Thema ging auch der Studierende Nicholas Schoch in seiner Story Map auf die Suche nach der „verlorenen Perspektive“ über den Augsburger Universitätscampus.[vii]

In meinen Seminaren schließt sich an den Zungenbrecher dann in der Regel ein erster Fragebogen an: „Wie oft gehen Sie und zu welchem Zweck?“, „Schätzen Sie ihr eigenes Gehtempo ein“ oder „Haben Sie eine Geh-Beeinträchtigung? Wenn ja, dauerhaft oder temporär?“ Die Reflektion über das eigene Mobilitätsverständnis und Befähigung steht immer am Anfang der Lerneinheit. Der Studierende Korbinian Döderlein hat in seiner Story-Map „Eine Runde um den Unisee“ aufgearbeitet, was oft der wichtigste Take-Home dieser Übung ist, noch bevor wir irgendwohin losgelaufen sind: Gehen entschleunigt. Die Studierenden nutzen es gerne als Kontrastpunkt in ihrer Realität der Hypermobilität.[viii]

Wie die Auswertung zeigt, sind die Augsburger Studierenden eher schnell unterwegs und schätzen sich selbst überwiegend als sehr fit ein.
Wie die Auswertung zeigt, sind die Augsburger Studierenden eher schnell unterwegs und schätzen sich selbst überwiegend als sehr fit ein.

Aus der Selbstreflektion kommen wir in die teilnehmende Beobachtung. Diese lässt sich gut in verschiedenen Formaten und Längen in unterschiedliche Seminareinheiten integrieren. Im Sommersemester 2024 „scheuchten“ mein Kollege Stefan Lindl und ich die Studierenden so zunächst einmal kreuz und quer über den Augsburger Uni-Campus.[ix] Wir wollten testen, ob und wie Geschwindigkeit und unterschiedliche Laufmodi unsere Wahrnehmung des Raums und der Landschaft verändern, und wer, wann, in welchen Räumen unterwegs ist: Eine Joggerin nachts allein im angrenzenden Stadtwald, zu Tags ein gut bevölkertes Naherholungsgebiet? Eher nicht. Und jemand im Rollstuhl auf dem Campus? Der Selbstversuch Ayca Esers zeigt, welche zeitlichen und räumliche Umwege hier in Kauf zu nehmen sind.[x] Beim Thema Barrierefreiheit geht also noch etwas; gleichzeitig lernen die Studierenden, dass unser Verständnis von Raum nicht ohne Intersektionalität und die Analysekategorien Race, Class und Gender auskommt. Landschaft als Privileg; Theorie per „Walk-Through“.

Ein weiterer inhaltlicher Block fokussiert dann die Konstruktion von Landschaft an sich, begleitet durch historisches Karten- und Bildmaterial aus dem Uniarchiv sowie dem benachbarten Staatsarchiv. Geht man damit ausgestattet dann im großzügigen Zick-Zack über die Trennlinie zwischen Univiertel und Augsburger Stadtwald, erschließen sich rasch die sich historisch verändernden Verläufe unterschiedlicher, menschengemachter Landschaftstypen oder auch der Sinn und Unsinn bestimmter Infrastrukturlinien. Dass Menschen Landschaft nicht nur horizontal, sondern auch vertikal erfassten und konstruierten, verdeutlichte das „Gehen“ auf den Schneeferner Gletscher im Rahmen eines Seminars zur Cryohistory, der Geschichte von Eis und Schnee. „Wir waren viel unterwegs, aber gelaufen sind wir so gut wie gar nicht,“ lautete die studentische Beschwerde ob unserer offensichtlichen Abhängigkeit von Automobilität und alpiner Infrastruktur, um unser Ziel auf 2686 Höhenmetern zu erreichen. Gleichzeitig begleitete uns in der Gondel ein Mann mit Blindenstock bis zur windumtosten Aussichtsplattform. Die sich daran anschließende Seminardiskussion zu Ableismus und der Rolle von Mobilitätsinfrastruktur in der Erschließung von Räumen: unbezahlbar! Wie auch die Erkenntnis, dass die Debatte darum, welcher Körper sich in welcher Ausrüstung dem Berg nähern darf, den Alpinismus seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert prägt.

Am Ende der Straße?

Auch wenn man zum Gehen wenig braucht, hat die Anwendung der Methode ihre Herausforderungen. Da sind die 90 Minuten Slots der Seminareinheiten, die sich nicht immer den anvisierten Zielen oder dem Wetter anpassen wollen. Tagesexkursionen wollen organisiert und finanziert, Strecken vorab abgelaufen bzw. durchkonzipiert und mit historischem Material versehen sein. Auch der Dreischritt aus Selbstwahrnehmung, teilnehmender Beobachtung und historischer Abstraktion braucht Zeit und auch Wiederholung. Haben Studierende die Konstruktion von Raum durch Mobilitätsinfrastruktur und -praxis verstanden, stolpern sie zuweilen über die historische Verfremdung. Die Vorstellung, dass Räume sich verändert haben und von unterschiedlichen Personengruppen zu sich wandelnden Zwecken genutzt und begangen wurden, liegt oft wie eine Baumwurzel quer über ihrem Weg. Historisches Material zur Veranschaulichung ist essentiell. „Ohne die Fotos aus dem Archiv,“ so ein Studierender, „wäre es schwieriger gewesen, sich das ins Bewusstsein zu rufen.“[xi]

In einer idealen Seminarwelt ist auch der studentische Transfer, d.h. die jeweilige Prüfungsleistung von der Idee des Gehens als Methode durchwirkt. In der Übung hatten wir uns für Story-Maps entschieden, eine Form des interaktiven Storytellings mit Karten. Aufgrund der Uni-Lizenz war die Nutzung des meiner Ansicht nach sehr intuitiven und einfach handhabbaren Programms ArcGIS kostenlos. Was manchem Lesenden vielleicht als Überforderung erscheint, resultierte in überaus kreativen, durchdachten und analytisch hochwertigen Arbeiten, beispielsweise zum Stadtwaldspaziergang als wissenschaftliche Methode (Florian Ihle) oder zur vergleichenden Konstruktion von Münchner Olympiasee und Augsburger Unisee (Teresa Dombrowski).[xii] Aber g/(s)ehen Sie selbst!

Gehen als Methode liegt im Trend – und das nicht nur in den Geowissenschaften, wie das Erasmus+ Projekt „Outdoor Learning in Higher Education“ (OLHE) darlegt. OLHE untersucht verschiedene Formate und Praktiken im universitären Lernbereich in Deutschland, Österreich, Norwegen, Luxemburg und Polen, verbindet Lehrende und stellt Materialien zur Verfügung. Ihr Argument für „mehr gehen“ ist nicht nur, dass wir als Gesellschaft zu viel sitzen und es gesund ist, wenn wir uns mehr bewegen, sondern auch dass Outdoor Learning Formate wie das Gehen mit seinem Schwerpunkt auf praxeologischen und erfahrungsorientierten Aktivitäten ein tieferes Verständnis von Konzepten fördern, Lernen stärker praktisch und weniger abstrakt gestalten. Dies bestätigt auch der obligatorische Abschlussfragebogen in meinen Seminaren. Wenn auch nicht alle Studierenden dem Statement eines Kommilitonen zustimmen würden: „Ich kann nicht mehr gehen, ohne über Gehen nachzudenken,“ so haben sie doch größtenteils den Zusammenhang von Raum und Konstruktion verinnerlicht und damit verbunden den mir für die Umweltgeschichte so wichtigen Perspektivwechsel auf den Menschen als Teil der Umwelt vollzogen. Es lohnt sich also, einfach mal loszulaufen.


[i] Macpherson, H. (2016). Walking methods in landscape research: moving bodies, spaces of disclosure and rapport. Landscape Research, 41 (4), 425–432. https://doi.org/10.1080/01426397.2016.1156065.

[ii] Peterson, J. D., & Valisena, D. (2025). Practicing More-Than-Human Walks. GeoHumanities, 1–17. https://doi.org/10.1080/2373566X.2025.2504374; Strohmayer, U. (2023). Beyond the Flâneur: Urban Walking as Peripatetic Phenomenological Pedagogy. GeoHumanities, 9(1), 78–101. https://doi.org/10.1080/2373566X.2022.2154690; Wylie, John (2005): A single day’s walking: narrating self and landscape on the South West Coast Path. In: Trans Inst British Geog 30 (2), S. 234–247. DOI: 10.1111/j.1475-5661.2005.00163.x; Anderson, J. 2004. Talking whilst walking: A geographical archaeology of knowledge. Area 36 (3):254–61. doi:10.1111/j.0004-0894.2004.00222.x; O’Neill, M., and B. Roberts. Walking methods: Research on the move. London and New York: Routledge 2019.

[iii] Rebecca Solint. Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens. Matthes & Seitz Berlin, 2019.

[iv] Guillaume Apollinaire. Flaneur in Paris, Berlin: Friedenauer Presse, 2011; Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk.“ In: Gesammelte Schriften. Band V in zwei Teilbänden; herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp-Verlag, 1982; Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Suhrkamp, Berlin 2015; Lauren Elkin, Flâneuse. Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London. Penguin Books, 2018.

[v] Kowalewski, M., and R. Bartłomiejski. 2020. “Is it research or just walking? Framing walking research methods as “non-scientific.”” Geoforum 114:59–65. doi:10.1016/j.geoforum.2020.06.002.

[vi] Lucius Burckhardt. Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Martin Schmitz Verlag, 2006.

[vii] Nicholas Schoch, „Auf der Suche nach der verlorenen Perspektive. Zwei Fotos, ein Weg, drei Akte.“ ArcGIS Story Map, September 2024, https://storymaps.arcgis.com/stories/0d92bed98a7545009aef4d2886333a6c.

[viii] Dazu die Story-Map Korbinian Döderleins „Eine Runde um den Unisee. Walking. Natur und Entschleunigung auf dem Campus der Universität Augsburg.“ September 2024. https://storymaps.arcgis.com/stories/fc0fa33730b3411b8e1f7353f4c1046e

[ix] Übung mit Prof. Dr. Stefan Lindl, Gehen als Methode, Sommersemester 2024, Universität Augsburg.

[x] Ayca Eser, „Zwei Wege, zwei Welten. Gehen, Rollstuhl und Ableismus im Selbstversuch zur Barrierefreiheit an der Universität Augsburg,“ ArcGIS Story Map, September 2024, https://storymaps.arcgis.com/stories/0c1004d0919244efa095b7e22dde59e2.

[xi] „Studierender MP24,“ Anonymisiertes qualitatives Interview, Universität Augsburg, 26. Februar 2025.

[xii] Florian Ihle, Der Stadtwaldspaziergang. Wie der Spaziergang die Perspektive ändern kann, Storymap September 2024, https://storymaps.arcgis.com/stories/d65c6e96541f4e62bd46c7c7d247be17; Teresa Julia Maria Miriam Dombrowski. Vom Olympiasee München zum Unisee Augsburg, Storymap Oktober 2024, https://storymaps.arcgis.com/stories/b17380e53c6941b19bc74bce0deb54a7.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Andreas Frings (24. September 2025). „Mal runter vom Campus“ – Gehen als Methode in den Geschichtswissenschaften. Geschichtswissenschaftsdidaktik. Abgerufen am 16. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14qnk


Eine Antwort

  1. Diesem spannenden Artikel wollten wir eine noch größere Reichweite verschaffen und haben ihn deshalb in den Slider auf unserer Startseite de.hypotheses.org und in unseren Newsletter aufgenommen. 😊

    Ulrike Stockhausen (Community Management de.hypotheses)

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